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Ingrid von buchsichten.de
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Erkelenz

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Insgesamt 355 Bewertungen
Bewertung vom 30.05.2025
Das Echo der Sommer
Labba, Elin Anna

Das Echo der Sommer


sehr gut

Die schwedische Autorin Elin Anna Labba widmet sich in ihrem Debütroman „Das Echo der Sommer“ der Geschichte der Samen, dem indigenen Volk des Nordens, dem sie selbst entstammt. Früher folgten sie stets ihren Rentierherden. Sie nutzten im Sommer Weiden oberhalb der Baumgrenze im Fjäll, also dem Gebirge. Im Winter fanden sie Weideland in geschützten Wäldern.

Die Handlung beginnt im Jahr 1941 als Ravdna, ihre Schwester Anne und ihre dreizehnjährige Tochter Inga im Norden von Schweden am Ufer eines Sees zusehen, wie das Wasser zunehmend ihre im Sommer genutzte kuppelförmige Torfkote und weitere Koten von anderen Dorfbewohnern flutet. Der schwedische Staat betrachtet die Samen als nicht sesshaft und verweigert ihnen damit das Recht auf eigenes Land. In unregelmäßigen Abständen wird der Staudamm am See erhöht, um mit Wasserkraft mehr Strom zu gewinnen. Zunächst wird auf das Hab und Gut der samischen Bevölkerung keine Rücksicht genommen. Während Anne zunehmend resigniert, beginnt Ravdna auf ihre Weise für die Rechte ihres Volks und den Erhalt ihrer kulturellen Identität zu kämpfen. Es wird ein langer und steiniger Weg.

Elin Anna Labba erzählt realistisch von dem entbehrungsreichen Alltag der Samen: von ihren Lebensgewohnheiten und Ritualen, von ihrer Kleidung und ihrer Ernährung. Im Laufe der Erzählung lernte ich mehr über die Historie des Volks. Durch die Perspektive der drei Protagonistinnen mit Mutter, Tochter und Schwester erfuhr ich auch vom familiären Miteinander und der gegenseitigen Unterstützung im Alltag. Samische Männer sind in der Regel im Sommer mit den Rentieren unterwegs. Die Frauen in den dörflichen Ansammlungen sind geschickt und fertigen diverse Artikel, die sie, wann immer möglich zum Verkauf anbieten, vor allem an Touristen. Themen wie Liebe oder Partnerschaft spielen hingegen eine eher untergeordnete Rolle.

Immer wieder wird samisch gesprochen, was den Lesefluss unterbricht, jedoch zur authentischen Atmosphäre beiträgt. In freien Versen lässt die Autorin zu Beginn, zwischen den Kapiteln und am Ende eindrucksvoll den See selbst zu Wort kommen. So verstärkt sie die poetische und zugleich beklemmende Stimmung ihres Romans

„Das Echo der Sommer“ erzählt anhand dreier Protagonistinnen einen bewegenden Ausschnitt aus der schicksalhaften Geschichte der Samen. Abseits des Dramas um die wiederholten Überflutungen ihrer Siedlung entwickelt sich der Roman in ruhigem Ton und vermittelt ein tiefes Gefühl für das Leben im Einklang mit der Natur. Ich habe beim Lesen viel über ein mir bisher unbekanntes Stück Zeitgeschichte erfahren, ebenso wie über samische Kultur und Lebensart. Der Umgang des schwedischen Staats mit diesem indigenen Volk lässt mich nach dem Beenden der Lektüre nachdenklich zurück. Gerne empfehle ich das Buch weiter.

Bewertung vom 30.05.2025
Leben und Sterben
Buyx, Alena

Leben und Sterben


sehr gut

Die ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Prof. Dr. Alena Buyx berichtet in ihrem Buch „Leben & Sterben - Die großen Fragen ethisch entscheiden“, wie in der medizinischen Praxis relevante Aspekte des Lebens geklärt werden, um gut und richtig zu handeln. Dabei spielt es eine Rolle, was moralisch erlaubt, zulässig und gesollt ist. Mit ihren Ausführungen möchte sie allen eine fundierte Grundlage vermitteln, um sich eine sorgfältig abgewogene Meinung zu medizinethischen Problemen bilden zu können. Zu beachten sind vier Prinzipien: der Respekt vor der Selbstbestimmung des Patienten, die Schadensvermeidung, die Fürsorge beziehungsweise das Wohltun und die Gerechtigkeit. Nachdem die Autorin die Prinzipien erläutert hat, folgen vier Kapitel, die sich den Fragen am Lebensbeginn (z.B. Frühgeburt und künstliche Befruchtung), am Ende des Lebens (z.B. Palliativmedizin, Sterbehilfe), dem Arzt-Patienten-Verhältnis und schließlich dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz und Robotik in der Medizin widmen.

Anhand von wenigen Fallbeispielen, an deren Klärung im Sinne der Ethik sie mitgearbeitet hat, verdeutlicht sie die Problemstellung, die meist viel komplexer ist, als es auf den ersten Blick erscheint. Man merkt, dass Alena Buyx gewöhnt ist, ihr Wissen im studentischen Umfeld zu vermitteln, denn sie spricht die Lesenden im Text regelmäßig darauf an, ob eine eigene Meinung zum beschriebenen Themenkreis besteht. Es gelingt ihr, die Vielseitigkeit der Fragen zu zeigen. Häufig verweist sie auf weiterführende Literatur im fünfundzwanzigseitigen Anhang, der nach Kapiteln und darin alphabetisch geordnet ist. Dadurch kann die gelesene Textstelle nicht immer direkt der weiterführenden Lektüre zugewiesen werden. Sicherlich ist es sinnvoll, die Ausführungen im Buch zu beschränken, aber die Hinweise auf den Anhang unterbrechen den Lesefluss.

Das Buch „Leben & Sterben“ von Prof. Dr. Alena Buyx behandelt auf eine begreifbare Weise existenzielle Fragen unseres Daseins, die mit Sinn, Verstand und Empathie geklärt werden müssen. Die Ausführungen regen dazu an, sich intensiv mit den verschiedenen geschilderten Situationen auseinanderzusetzen, insbesondere im Hinblick auf persönliche Entscheidungen wie das Verfassen einer Patientenverfügung. Ich fand die Themen interessant und anregend. Daher empfehle ich das Buch allen, die sich trotz der kleinen Kritikpunkte mit medizinethischen Aspekten zwischen Leben und Sterben beschäftigen möchten.

Bewertung vom 25.05.2025
Schauplätze der Weltliteratur

Schauplätze der Weltliteratur


ausgezeichnet

Das Buch „Schauplätze der Weltliteratur“ ist eine „Reise zu berühmten Orten großer Werke“, wie es im Untertitel heißt. Es geht hier nicht darum, reale Schauplätze vorzustellen. John Sutherland, der die Sammlung zusammengestellt hat, erklärt in seiner Einleitung, dass eine „literarische“ Landschaft mit Worten gestaltet wurde. Sie lösen beim Lesenden ein Kopfkino aus, anhand dessen sich für ihn eine Vorstellung bildet. Außerdem bezieht er in dem von ihm angewendeten Konzept sowohl Orte wie auch die Gewohnheiten, Sitten und Konventionen der dort lebenden Menschen mit ein. Anhand der Beschreibung von SchriftstellerInnen des gleichen Schauplatzes wird deutlich, wie verschieden dieser wahrgenommen wird.

In vier verschiedenen Kapiteln ordnet der Herausgeber die von ihm ausgewählten Bücher zeitlich zu. „Romantische Aussichten“ behandelt Romane, die in der Zeit bis 1920 geschrieben wurden, „Kartierung der Moderne“ schaut auf Bücher aus der Zeit von 1921 bis 1951, „Nachkriegspanoramen“ umfasst die Jahre bis 1982 und abschließend blickt man in „Zeitgenössische Schauplätze“ auf die vergangenen vier Jahrzehnte. Jedes Buch wird auf zwei bis vier Seiten vorgestellt. Nach einem ersten Pitch unterhalb des Titels wird der Inhalt des literarischen Werks kompakt zusammengefasst. Kurze Zitate aus dem jeweiligen Roman ergänzen den Überblick. Biografische Informationen zur Autorin oder zum Autor befinden sich in einer äußeren Spalte am Beginn der Vorstellung. Fotos, Landkarten, Illustrationen und Meisterwerke ergänzen die Darstellung.

Die Präsentation eines Romans übernehmen AutorInnen von Rang, die im Anhang alphabetisch aufgeführt sind. Dazu zählen KritikerInnen, ProfessorInnen und RedakteurInnen. Auf welche Reise sie den Lesenden mitnehmen, steht unterhalb ihrer Beschreibung. In ihren Zusammenfassungen des jeweiligen Werks beschreiben sie neben dem Schauplatz Wissenswertes zu Hintergründen und Motiven der Entstehung. Ein Register und ein Bildnachweis finden sich ebenfalls am Ende des Buchs.

„Schauplätze der Weltliteratur“ ist ein ansprechend aufgemachtes gestaltetes Buch, das wertig erscheint. Von den mehr als siebzig vorgestellten Werke kann der Lesende sich inspirieren lassen, um den Roman anschließend zu erwerben und zu lesen. Diejenigen, die das ein oder andere Buch bereits kennen, werden sich gerne durch die Präsentation daran zurückerinnern. Ich vergebe eine Leseempfehlung und weise darauf hin, dass das Buch auch gut zum Verschenken geeignet ist.

Bewertung vom 06.05.2025
Die Summe unserer Teile
Lopez, Paola

Die Summe unserer Teile


ausgezeichnet

In ihrem Debütroman „Die Summe unserer Teile“ erzählt Paola Lopez von drei Frauen: Lucy, ihrer Mutter Daria und deren Mutter Mila. Die Handlung beginnt im Jahr 2014, reicht jedoch über siebzig Jahre in die Vergangenheit zurück und überschreitet dabei auch Ländergrenzen. Lucy wurde in München geboren, lebt aber inzwischen in Berlin. Ihre Mutter kam Anfang der 1970er Jahre zum Studium in die Hauptstadt Bayerns gekommen, doch zur Welt gekommen ist sie in Beirut. Infolge des Zweiten Weltkriegs gelangt Mila von ihrer Heimat Polen in den Libanon. Der unerschütterliche Wille zur Selbstbestimmung verbindet die drei Frauen.

Eines Tages erhält Lucy unerwartet einen Konzertflügel, den ihre Mutter unter ihrem Mädchennamen an die neue Anschrift ihrer Tochter in der Wohngemeinschaft in Berlin transportieren lässt, die sie eigentlich nicht kennen kann. Lucy wird dadurch veranlasst, über ihr bisheriges Leben und das schwierige Verhältnis zu ihrer Familie nachzudenken. Sie trägt genauso wie ihre Großmutter den Vornamen Lyudmila, doch sie hat diese nie bewusst kennenlernen können. Nachdem ihr Mitbewohner erneut mit ihrer besten Freundin zusammenkommt, nimmt es Lucy den Atem und sie stellt fest, dass sie dringend eine Veränderung braucht. Kurzfristig beschließt sie, nach Polen zu reisen, um dort einer Spur zu folgen, die sie näher an das Leben ihrer Großmutter heranführen soll.

Die Studienjahre der Frauen sorgen bei allen dreien für große Veränderungen. Mila verschafft sich bei ihrem Chemiestudium in Beirut, das sie bevorzugt aufgrund ihrer Deutschkenntnisse aufnehmen konnte, nach kurzer Zeit den Respekt ihres Vorgesetzten und den ihrer Kolleginnen und Kollegen. Erst nach einigen Jahren ihrer Ehe mit einem Chemiker kommt ihre Tochter Daria zur Welt, die ihre Mutter als kühl und abweisend in Erinnerung hat. Aufgrund des Wunschs ihrer Eltern beginnt sie später ein Medizinstudium in München, bei dem sie ihren zukünftigen Ehemann kennenlernt. Lucy hingegen studiert Informatik und entwickelt Computerspiele. Mit ihrer Mutter hat sie seit drei Jahre kein Wort gewechselt.

Der Autorin gelingt es, die zwischenmenschlichen Spannungen nicht nur über Dialoge, sondern vor allem über stille Handlungen sichtbar zu machen. Jede der Frauen sucht einen Weg, alte Muster zu durchbrechen, die bisher gekannten Grenzen hinter sich zu lassen und eine eigene Identität zu formen. In ihrem Anspruch, stets beste Leistungen in allem zu zeigen, vergessen sie die Relevanz der Kommunikation, was zu tragischen Missverständnissen mit weitreichenden Folgen führt.

Paola Lopez zeigt mit großer Empathie die Verletzlichkeit ihrer Figuren und lässt nachvollziehbar werden, warum es an Verständnis füreinander fehlt. Erst im weiteren Verlauf der Erzählung lüftet sie ein Geheimnis, das die erwartete Summe aus dem Zusammenfügen der Teile der Familiengeschichte hinauswachsen lässt. Als Leserin hat mich dieser atmosphärisch dichte und fein komponierte Roman an vielen Stellen tief berührt, sodass ich dieses eindrucksvolle literarische Debüt sehr gerne weiterempfehle.

Bewertung vom 28.04.2025
Bis die Sonne scheint
Schünemann, Christian

Bis die Sonne scheint


ausgezeichnet

Trotz knapper finanzieller Mittel macht sich Familie Hormann in den 1980er Jahren auf den Weg in den Süden und fährt so lange „Bis die Sonne scheint“. Der gleichnamige autobiografische Roman von Christian Schünemann erzählt die Geschichte seiner Familie über mehrere Generationen hinweg, bis hin zu seinen Großeltern. Die Namen hat der Autor geändert.

Kurz vor der Konfirmation des 15-jährigen Daniel Hormanns, der als Alter Ego des Autors fungiert, regnet es wieder durch das marode Dach des Elternhauses. Daniel lebt mit seinen Eltern und drei Geschwistern auf dem Land in der Nähe von Bremen. An diesem Abend belauscht er ein Gespräch seines Vaters mit seiner Mutter aus dem er schließt, dass deren Probleme gravierender sind, als er bisher ahnte und vermutet, dass es Sorgen finanzieller Art sind. In Erwartung seines anstehenden großen Fests hatte Daniel sich darauf gefreut, schick eingekleidet zu werden. Außerdem hatte er gehofft, viele Verwandte einladen zu können, die ihn großzügig mit hohen Geldsummen beschenken würden. Während innerhalb der Familie an allen Ecken gespart wird, bemühen sich seine Eltern, nach außen den schönen Schein von gut Verdienenden zu wahren.

Der Autor spannt in seiner Familiengeschichte einen weiten Bogen. Seine in Oberschlesien geborene und später heimatvertriebene Mutter Marlene hat sich Mitte der 1950er Jahre den Wunsch nach Abitur und Studium nicht erfüllen können. Stattdessen musste sie auf Gehiß ihrer Mutter mit ihrem Gehalt zum Familieneinkommen beitragen. Die Mutter von Daniels Vater Siegfried dagegen hat sich seit der Weltkriegszeit von ihren Kindern und ihrem Mann distanziert. Siegfried selbst hat sich für eine Beamtenlaufbahn entschieden, träumte aber insgeheim davon, Opernsänger zu werden. Sowohl Marlene als auch Siegfried sind überzeugt, dass das Leben noch mehr für sie bereithält. Auch wenn aktuell kein finanzielles Polster vorhanden ist, halten sie weiterhin an Träumen fest, die sich aber im Laufe der Zeit geändert haben.

Gerne habe ich mich als Leserin mit in die 1980er Jahre nehmen lassen. Weil ich im Alter der ältesten Tochter der Familie Hormann bin, konnte ich dank der zahlreichen Details über diese Zeit in Erinnerungen schwelgen. Christian Schünemann lässt das Lebensgefühl der damaligen Zeit authentisch aufleben, unter anderem durch die Erwähnung von Filmen und Musiktiteln. Nach den entbehrungsreichen Kriegs- und Nachkriegsjahren ermöglicht inzwischen der wirtschaftliche Aufschwung, dass ein Durchschnittverdiener sich einiges leisten kann. Technologische Fortschritte machen die Zukunft spannend. Die Kapitel, die in den 80er Jahren spielen und von Daniel in Ich-Perspektive erzählt werden, unterscheiden sich von denen mit Rückblicken auf die Familiengeschichte in auktorialen Erzählform durch eine Überschrift mit französischen Vokabeln.

Der Roman „Bis die Sonne scheint“ von Christian Schünemann berührt mit Begebenheiten innerhalb der Familie des Autors, die über fünf Jahrzehnte zurückreichen. Durch die gewählte Ich-Erzählform des Protagonisten, der den Autor verkörpert, wurden dessen Gefühle deutlich über das diffuse Verhalten seiner Eltern, die bemüht waren, sich nach außen hin nicht von anderen Familien abheben zu wollen. Gleichzeitig möchten sie sich aber dennoch ihre Träume von einem schönen erfüllten Lebens nicht nehmen lassen. Sehr gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 08.04.2025
Unter Grund
Liepold, Annegret

Unter Grund


sehr gut

Franziska Fuchsberger, genannt Franka, ist die Protagonistin im Roman „Unter Grund“ von Annegret Liepold. Die 27-jährige Referendarin an einer Volksschule lebt seit 2017 in einer Wohngemeinschaft mit Hannah, die als Journalistin über den NSU-Prozess in München berichtet. Als Franka mit ihrer Schulklasse eine der Sitzungen besucht, schweifen ihre Gedanken in die Vergangenheit ab, zu einer Zeit, in der sie sich mit Freunden aus der rechten Szene umgab. Von diesem Kapitel ihres Lebens weiß aktuell aber niemand in ihrem Umfeld. Spontan beschließt sie, in ihr Heimatdorf in der Nähe von Erlangen zu fahren. Ihre Mutter und ihre Tante leben dort immer noch, aber ihre Großmutter, von allen als „Fuchsin“ bezeichnet, ist vor einigen Jahren verstorben. Über deren Leben liegt ein Geheimnis, das erst im Verlauf der Geschichte enthüllt wird.

Als Franka elf Jahre alt war, ist ihr Vater gestorben. Mit ihm ist sie viel durch die Natur gestreift und hat ihm dabei geholfen, den familieneigenen Weiher abzufischen. Sie hat gute Schulnoten, auf die ihr Vater sicher stolz wäre, aber keine bemerkenswerten Freundschaften. Die Beziehung zu ihrer Mutter ist kompliziert und viele Dinge zwischen ihnen bleiben unausgesprochen. Als sie Leon kennenlernt, der eines Tages ins Dorf zieht, erfährt sie zum echte Aufmerksamkeit. Während der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland gerät ihre Beziehung in eine Krise. Sie findet Anschluss bei Janna und Patrick. Die beiden sind der Ansicht, dass man eine Meinung nicht nur in der Öffentlichkeit äußern, sondern auch aktionsmäßig durchsetzen sollte. Zum ersten Mal fühlt Franka sich einer Gruppe zugehörig.

Bis zu ihrem Besuch des Prozesses hat sie über ihre Vergangenheit geschwiegen. Innerlich hat sie sich von den früheren Geschehnissen zwar distanziert, aber nicht im Einzelnen damit auseinandergesetzt. Nun aber drängen die Erinnerungen an die Oberfläche und fordern sie heraus, sich den Begebenheiten von damals zu stellen, denn sie will ihr jetziges Leben nicht erneut hinter sich lassen. Es ist nicht immer leicht, den zeitlichen Sprüngen zwischen den Abschnitten zu folgen. Ich hätte mir eine weitere Darstellung dazu gewünscht, ob das Familiengeheimnis einen Bezug zur Entwicklung der extremen Einstellungen von Franka als Jugendliche hat. Im Anhang finden sich ein Glossar und Verweise zu den im Text verwendeten Begrifflichkeiten des rechten Gedankenguts, die zur Verdeutlichung unumgänglich sind.

Annegret Liepolds zeigt mit ihrem Roman „Unter Grund“ ein Beispiel dafür, welche Mechanismen eine Radikalisierung in kurzer Zeit begünstigen können. Sie greift damit ein hochaktuelles und wichtiges Thema auf. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 19.03.2025
Hier draußen
Behm, Martina

Hier draußen


ausgezeichnet

Der Debütroman von Martina Behm trägt den Titel „Hier draußen“. Man könnte ihn mit „… im Dorf“ ergänzen, denn die Haupthandlung der Geschichte spielt in dem etwa zweihundert Seelen umfassenden, fiktiven holsteinischen Ort „Fehrdorf“. Ein alter Mythos um die auf dem Cover abgebildete weiße Hirschkuh bildet den erzählerischen Rahmen für die Ereignisse im Buch, die innerhalb eines Jahres geschehen.

Ingo und Lara sind vor drei Jahren mit ihren beiden Kindern von Hamburg nach Fehrdorf gezogen. Sie haben dort einen Resthof gekauft, um mehr Wohnraum zu erhalten und naturnäher zu leben. Lara arbeitet im Homeoffice, aber Ingo pendelt täglich in die Stadt. Auf einer späten Heimatfahrt läuft ihm eine weiße Hirschkuh vors Auto. Als er den Unfall meldet, wird ihm der dafür zuständige Jäger geschickt, der ihm erzählt, dass das Töten eines ebensolchen Exemplars dazu führt, dass die- oder derjenige innerhalb eines Jahres selbst verstirbt. Gemeinsam führen sie den Schuss aus. Durch die gesamte Geschichte hinweg, wird der Mythos immer wieder thematisiert, insbesondere, weil Lara daran interessiert ist, wodurch die Legende begründet wurde.

Martina Behm beschreibt das Dorfleben auf eine realistische Weise. Einerseits suchen hier Städter nach einem Leben mit weniger Stress, besserer Luft und engerem Kontakt zu den Bewohnern. Andererseits schildert die Autorin das Bedürfnis der Alteingesessenen, die sich beruflich aus der Landwirtschaft lösen, Brauchtümer hinter sich lassen und neue Wege gehen möchten, was sich oft als schwierig erweist.

Die Autorin stellt eine größere Anzahl Figuren vor, die sich zu zweit, zu dritt oder mit noch mehr Personen gruppieren. Eine Ausnahme bildet der alleinstehende Jäger Uwe, der in den 1960er Jahren geboren wurde und den Hof seiner verstorbenen Eltern weiterführt. In seinem Alter sind auch der Hähnchenmäster Söhnke und seine Frau Maggie, deren Tochter zwar studiert, sich auf dem Hof als Landwirtin aber wohler fühlt. Der Schweinezüchter Enno hält unbeirrt an alten Gewohnheiten fest und übersieht geflissentlich, dass seine Frau Tove schon seit langem seine Vorstellung der nächsten und weiteren Zukunft nicht teilt. Aus einer einst größeren Wohngemeinschaft sind nur noch Armin und Jutta im Ort geblieben, die ein respektvolles und wertschätzendes Miteinander gefunden haben. Wie Ingo und Lara wohnen auch die seit langem im Dorf verwurzelten Caro und Krischi, der sich an einem Online-Handel verssucht.

Während Martina Behm eine ländliche Idylle mit grünen Wiesen und Wälder ausmalt, verschweigt sie nicht die weniger romantischen Aspekte wie zum Beispiel der Geruch nach dem Ausfahren von Gülle, Traktorenlärm in den frühen Morgen- und späten Abendstunden sowie die allgegenwärtigen Fliegen und Mäuse. Der Autorin gelingt es, durch den ständigen Perspektivenwechsel zu den verschiedenen Personen, interessante Ansichten zum Leben auf dem Land in ihrer Geschichte aufzunehmen und authentisch darzustellen.

Der Roman „Hier draußen“ von Martina Behm spiegelt das Leben auf dem Land in seinen Facetten wider. Bewusst spielt sie mit Klischees, ohne ins Banale abzudriften. Sie schaut auf die Gefühle ihrer Figuren im dörflichen Zusammenleben. Einige kurze Rückblicke in die Vergangenheit einzelner Charaktere sorgen für ein tieferes Verständnis der Hintergründe für ihr gegenwärtiges Handeln. Mir hat die Geschichte sehr gut gefallen und daher lege ich sie gerne jeder und jedem ans Herz.

Bewertung vom 15.03.2025
True Crime in Nature
Graßmann, Farina

True Crime in Nature


sehr gut

Die Autorin, Naturfotografin und Referentin für Naturschutzthemen Farina Grassmann wirft im ihrem Buch „True Crime in Nature“ einen besonderen Blick auf Fauna und Flora. Sie deckt Betrug, Diebstahl und Mord in unserer heimischen Tier- und Pflanzenwelt auf. In beiden Welten steht das Prinzip der Fortpflanzung im Vordergrund. Für dieses Ziel sind die Organismen bereit, erstaunliche kriminelle Energien freizusetzen. Sie kapern zum Beispiel fremde Nester oder Vorratskammern, leben im Körper von anderen, manipulieren und bauen raffinierte Fallen. Dabei kann man ihnen keine Hinterlist nachsagen, sondern der Trieb dazu ist in der Regel angeboren. Für den Menschen bleibt diese Naturgeschehen oft unbemerkt und ist meistens ungefährlich.

Den größten Teil der Beschreibungen nehmen Insekten ein, aber auch Vögel, Frösche, Fuchs und Wal sowie Bäume und Pflanzen sorgen für staunenswerte Erkenntnisse. Vielfach begegnet der Lesende im Buch einer parasitären Lebensform. Die Autorin weist auf deren Bedeutung hin, denn sie sorgen dafür, dass Ökosysteme im Gleichgewicht bleiben.

Farina Grassmann schreibt informativ und unterhaltsam. Sie beschränkt sich nicht nur auf reine Fakten, sondern arbeitet gezielt die erstaunlichsten Aspekte heraus. Manchmal greift sie auf Ironie zurück, um besondere Leistungen zu betonen oder gängige Meinungen zu widerlegen. Fauna und Flora verändern sich ständig, wodurch Tiere und Pflanzen einem steten Wandel unterliegen. Die Wissenschaft steht immer wieder vor neuen Rätseln und längst sind nicht alle Fragen geklärt.

Die Ausführungen werden begleitet mit humorvollen Illustrationen von Cornelis Jettke, die den unerfreulichen Tatsachen erheiternd entgegenwirken. Ebenso finden sich fünfzehn Farbfotografien der „Verbrecher“, die von der Autorin aufgenommen wurden. Hiervon hätte ich mir noch mehr gewünscht.

In ihrem Buch „True Crime in Nature“ zeigt Farina Grassmann eindrucksvoll, dass die Natur nicht immer so friedfertig ist, wie wir sie meist wahrnehmen. Es ist nicht nur eine Darstellung, welche Tricks einige Tiere und Pflanzen aufwenden, um ihr Überleben und ihre Fortpflanzung zu sichern, sondern auch ein Plädoyer dafür, genauer hinzusehen, um die Feinheiten der Flora und Fauna bewusster wahrzunehmen.

Bewertung vom 15.03.2025
Der Einfluss der Fasane
Strubel, Antje Rávik

Der Einfluss der Fasane


sehr gut

Zu Beginn des Romans „Der Einfluss der Fasane“ von Antje Rávik Strubel erfährt die etwa 50-jährige Protagonistin Hella Karl aus der Tageszeitung vom Tod des ihr bekannten deutschen Intendanten Hochwerth. Er hat seinem Leben ein Ende gesetzt. Seine Frau hat ihn nach ihrem Auftritt als Opernsängerin an der Sydney Opera in ihrer Garderobe tot aufgefunden.

Hella ist überrascht, dass sie als langjährige Leiterin des Feuilletons einer Zeitung darüber nicht informiert wurde. Sie fährt in die Redaktion, um selbst einen Nachruf zu verfassen. Die Anzeichen mehren sich, dass einige in ihrem Umfeld der Ansicht sind, sie hätte mit einem ihrer Artikel dazu beigetragen, dass der Intendant gekündigt habe und als weitere Konsequenz aus dem Leben geschieden sei.

Antje Rávik Strubel beschäftigt sich in ihrem Roman damit, was Massenmedien bewegen können und wirft dabei eine Menge Fragen. Wie wirken sich Medienberichte auf die öffentliche Wahrnehmung aus? Wem kann ich persönlich gewonnene Informationen anvertrauen, ohne dass diese ungefragt weitergegeben werden? Gleichzeitig regt die Geschichte dazu an, über die Zuverlässigkeit von erhaltenen Informationen und die Dynamik von Fake News nachzudenken, die sich oft unkontrolliert verbreiten.

Bei Hella ist es das Wissen um das Spiel mit der Macht des Intendanten, dass sie dazu veranlasst hat, ihn zu beschuldigen. Sie fühlte sich verpflichtet, über die Missstände öffentlich zu schreiben. Obwohl sie stets um Objektivität bemüht ist, kommt sie über eigene, in der Vergangenheit geäußerte Meinungen ins Grübeln.

Es sind vor allem die sensationellen Meldungen, die hohe Aufmerksamkeit erhalten und sich schnell verbreiten. Uns allen muss bewusst sein, dass es Entscheidungen gibt, die nicht immer umkehrbar sind. Was sollte die Öffentlichkeit über eine Person erfahren und was sollte demgegenüber nicht öffentlich verhandelt werden?

Die Autorin kreiert für ihre Protagonistin eine interessante Partnerbeziehung, die Hella bisher auf gewisse Weise Halt gegeben hat. Doch Hella ist unermüdlich in ihre Arbeit vertieft, dass sie die schleichenden Veränderungen in ihrem persönlichen Umfeld kaum wahrnimmt. Das Ende der Geschichte bietet eine unerwartete Wendung, die zeigt, wie tief man sich in jemandem täuschen kann, dem man sein Vertrauen geschenkt hat.

„Der Einfluss der Romane“ von Antje Rávik Strubel ist ein tiefgründiger Roman, der der eindrucksvoll veranschaulicht, wie Medien das Ansehen einer Person in der Öffentlichkeit beeinflussen können. Die manchmal ins satirische gehende Darstellung lockert das schwerwiegende Thema stellenweise auf. Die Geschichte bietet Denkanstöße und hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Gerne empfehle ich sie weiter.

Bewertung vom 11.03.2025
Für Polina
Würger, Takis

Für Polina


ausgezeichnet

Im Fokus des Romans „Für Polina“ von Takis Würger steht Hannes Prager, der gemeinsam mit dem titelgebenden Mädchen aufwächst. Bereits in jungen Jahren verbindet ihn eine Freundschaft mit Polina, die durch Gegensätzlichkeit der Charaktere lebt. Als er vierzehn Jahre alt ist, verändert sich etwas in ihrer Beziehung. Dem wortkargen Hannes gelingt es nicht, Polina seine tiefen Gefühle zu bekennen. Stattdessen komponiert der musikalisch begabte Junge ein Lied, das nicht nur die Persönlichkeit der geliebten Person, sondern auch seine eigene Sehnsucht und Liebe widerspiegelt. Wenig später geschieht ein tragischer Unfall, der die Lebenswege von Polina und Hannes auseinanderführt.

Der Autor kreiert für seinen Protagonisten einen vielschichtigen familiären Hintergrund. Fritzi, die Mutter von Hannes, wird unerwartet schwanger und gibt ihre beruflichen Träume von einer Karriere als Juristin auf. Sie zieht als Untermieterin mit ihrem Sohn in eine verfallende Villa in einem Naturschutzgebiet zu einem zunächst abweisenden alten Herrn. Polina ist die Tochter einer Freundin von Fritzi, die gerne zu Besuch kommt.

Sowohl der Protagonist wie auch die Titelfigur sind facettenreich gestaltet. Hannes ist blondgelockt und eher von schmaler Statur. Von Geburt an fällt seine Introvertiertheit auf, die andere als wundersam empfinden. Für Musik entwickelt er ein außergewöhnlich ausgeprägtes Gehör. Das Klavierspielen bringt er sich mehr oder weniger autodidaktisch bei. Polina hingegen ist dunkelhaarig und lebhaft. Sie erzählt gerne und erklärt ihrem Freund die Welt. Als sie ins Teenageralter kommt, nehmen äußere Einflüsse einen immer breiteren Raum ein. Während Hannes sich in seiner Musik verliert, findet Polina Gefallen an anderen gleichaltrigen Jungen.

Einfühlsam und mit Zärtlichkeit zeichnet Takis Würger die Beziehung zwischen Hannes und Polina nach. Die Musik, die sein Protagonist erschafft, berührt die Zuhörer, so dass sie sich der darin enthaltenen Magie nicht entziehen können. Als Lesende glaubt man, die Melodie für Polina hören zu können. Obwohl Hannes nach dem Unfall seiner Mutter das Klavierspielen aufgibt, bleibt er den Klavieren auf ungewöhnliche Weise verbunden. Der Roman vermittelt einige Informationen rund um das Tasteninstrument.

Neben dem Coming-of-Age von Hannes und Paulina bindet die Geschichte schmerzliche Verluste, tragische Missverständnisse und die Liebe ein, die im Verborgenen blüht und sich ihre eigenen Wege sucht, um sich zu offenbaren. Der Roman „Für Polina“ von Takis Würger hinterlässt eine Melodie, die lange nachklingt. Sehr gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.